„fabricare necesse est, natura non est“ *
Zeit: Fr. 05.08.16 / 23.00 Uhr – Sa. 06.08.16 / 02.30 Uhr
Ort: Leuna, Sachsen-Anhalt
Wetter: 17°, Westwind 2-3, teils bewölkt, zunehmender Mond
Aufbruch aus Leipzig gegen 21:30 Uhr. Kurz nach dem Flughafen Leipzig/Halle kommt die Autobahnabfahrt Leuna. Bereits hier ist das Chemiewerk unübersehbar. Die
nächtliche Recherchefahrt durch das Wohngebiet Leunas gewährt mir zwischen gut sanierten Einfamilienlhäusern mit ihren perfekt gepflekten Vorgärten erstaunliche Blicke auf Gasschlote. Ich bin
fassungslos. „Wieso mag man hier freiwillig wohnen, wenn man dazu nicht gezwungen wird?“ Das Werk ist immerwährend in Betrieb, und die Geräusche der Anlagen und des Schienenverkehrs versprechen
keine kleinstädtische Nachtruhe.
Noch aufdringlicher empfinde ich das was sich meinem Geruchs- sinn offenbart. Chemiedunst. Hier möchte ich kein Fenster für Frischluft öffnen müssen. Dies wäre
vielleicht der perfekte Drehort für die Marschroniken von Ray Bradbury? In einem als Deadend gekennzeichneten Privat- weg sehe ich endlich einen Marsmenschen. Er trägt ein dunkelblaues T-Shirt,
dazu eine schwarze Unterhose. Mit einem Baseball-Schläger nähert er sich. „Was sucht Ihr hier!“ schreit es aus seinem auf breiten Schultern sitzenden, vierzigjährigen Kurzhaarkopf. „Wir suchen
ein Bild!“ ruft Hannes, der mich mit seinem Auto auf dieser Nachttour begleitet, ihm beschwichtigend entgegen. Ich stehe am Auto, zu weit weg, um die Gesichtszüge des Wütigen interpretieren zu
können. Die Kurzbotschaft „wir suchen ein Bild“ muss ihn milde gestimmt haben . „Na,... schön ist es hier in Leuna nicht“ sagt der Mann und wendet sich ab, geht zurück in sein Wohnhaus, welches
direkt neben dem abgesperrten Tor des gigantischen Chemiewerks liegt. Ich beobachte die unterschiedlich farbigen Flammen, die aus zwei schmalen Gasschloten heraustänzeln. Eine violettbläuliche
und eine pinkfarbene. Aus den daneben stehenden dicken Schornsteinen steigen massivere schwefelfarbige Rauchschwaden auf. Das Spektakel wird gesteigert durch die reichlich angebrachten
Scheinwerfer. Ihr Licht hangelt sich wie eine kaltweiße Lichterkette an den Gerüsten der Schloten entlang. Dieses Ansammlung von hartweißen Streulichtern wird man sicherlich problemlos aus dem
Flugzeug wahrnehmen können. * S. 402, (Hg.) Rupieper et al., Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert, Halle (Saale), 2005.
Ich hebe die mit Bier gefüllte Kühlbox aus dem Kofferraum als Maltisch, sowie meine mit Malutensilien gefüllte Anglertasche, und trage diese den kleinen Wall hoch, der sich neben einer ca. zwei Meter hohen Betonwand ausdehnt. Hannes gibt mir eine Handtrittleiter, damit ich über die Mauer blicken kann. Direkt hinter der Mauer rangieren Kolonnen von Waggons. Mehr kann ich in der Sekundenschnelle und in der Dunkelheit nicht erfassen. Mit Malerjacke und kurzer Hose setze ich mich mit meiner LED-Kopflampe ins hohe Gras. Dieser Wall wirkt fast idyllisch mit seinem wilden Gräserbewuchs. und dem schlafenden Hannes darin. Die Betonmauer gibt mir Windschutz. Auf einer kreisförmigen Malpappe fange ich an, ein Fragment des Werks mit schnellen Pinselstrichen an den Rand zu setzen. Die Schlote in farbigen Grautönen, die Flutlichter blauweißlich, manchmal gelblich. Grell behaupten sie sich gegen das finstere Umfeld der schwarzblauen Nacht und grenzen sich wichtigtuerisch ab.
Eine Stunde nach Mitternacht wecke ich Hannes, um zum nächsten Standort aufzubrechen. Drei Straßen weiter gibt es ein freistehendes Feld.mit einem weiträumigeren
Blick auf das Werk. Nach einem kurzen Nachtpicknick aus Ziegenkäse und Senf benutze ich die Kühlbox wieder als Malunterlage. Es ist kühl geworden, hier bin ich dem Wind ungeschützt
ausgeliefert. Trotz eines weiteren Pullovers fange ich an zu frieren. Das malerische Einfangen der Werkbeleuchtung auf dem Karton versuche ich zu beschleunigen. Sie umläuft wie ein Räderwerk in
einer unendlichen Art den Kreisrand. Ein Chemie-Hamsterrad, aus dem es kein Entrinnen mehr zu geben scheint. Ich reibe meine Hände wärmend aneinander, und frage mich bei meinem Rundumblick, was
eigentlich zuerst da war? Die Einfamilienhäuser an der Friedhofstraße oder das Chemiewerk (...)
Auszug aus dem Journalbericht August 2016 von Silke Silkeborg